Hallo Zusammen,


wie haltet ihr es mit dem Gedenken an "unbequeme" Vorfahren/Verwandte? Sprich Mörder, Vergewaltiger, gewerbsmäßige Räuber, andere (Kriegs-)Verbrecher, Soldaten, etc.?

Dokumentiert ihr die nur insofern sie Verbindungsglieder zu weiteren Generationen sind, oder haltet ihr sie genauso präsent wie die anderen?

Hallo Pascal,

die Frage zur Präsenz eines Verwandten der eines der von dir oben angeführten Tätigkeiten finde ich ein interessantes Gedankenspiel.

Wenn ich einen direkten Ahn hätte der Kriegsverbrecher war und ich das wüsste, würde ich es als meine selbstauferlegte Pflicht sehen, das auch an meine Nachkommen weiterzugeben. Es muss aber jeder selbst den Weg finden wie er damit umgeht. Es soll eine Lehre daraus entstehen, aber keine Belehrung daraus machen.

Alle meine Urgroßväter sowie mein Opa (minderjährig wurde am ersten Tag seines Fronteinsatzes schwer verwundet, was ihm das Leben rettete) mussten in einen der beiden Weltkriege und noch weitere Generationen meiner Ahnherren dienten in Kriegen. Bei meinem Opa und jenen zwei Urgroßvätern die ich kennenlernen durfte weiß ich, das sie nicht freiwillig und siegesbewusst in den Krieg einzogen. Gerade bei diesen beiden Urgroßvätern habe ich manchmal ein Gedankenspiel bezüglich ihrer Abstammung (beide haben slawischen Anteil) ob eines anderen Endes des Kriegs.

Es gibt Geschwister meiner Ahnen oder Personen mit denen ich Teile meines Stammbaums gemeinsam habe, die Mörder oder Räuber waren, ich zeichne es auf und es ist sicherlich immer das erste an was ich bei der betreffenden Person denke, aber ständig präsent habe ich diese Personen nicht.

Liebe Grüße!

Dominik

Hallo Dominik, Pascal.

Auch ich habe Ahnen die im 1 und 2 Weltkrieg mitgewirkt haben, anscheinend auch welche die gegen kuruzzen, awaren, ungarn und türken in den kampf gezogen sind.

Was würde es nutzen diese Menschen außen vorzulassen, komplizierte Umstände lassen vieles an Geschichte zu. Verbrecher, Räuber, damit hab ich noch keine Erfahrung außer das einer meiner Urgroßväter kein zimperlicher Gastwirt war, anscheinend einer der kräftigsten Landmenschen und ordentlich zulangen konnte.

sonst bin ich ganz bei dir dominik,

ps. pascal, Das Gedenken an die Verstorbenen gehört zum ältesten religiösen Verhalten der Menschen und kommt eigentlich fast nur mehr zu Allerheigen vor, ob es dann was nutzt, seelenlichter für sozusagen ( Herrgott, lass sie seelig ruhen) abtrünnige ( die frage ob man sich das selbst leisten kann ) zu entzünden bleibst jedem selbst überlassen.

schöne Woche wünsch ich euch.

Konkret geht es bei mir um die Verwandtschaft, die im Dritten Reich aktiv war und die Frage, ob man sich deren Bilder "guten Gewissens" ins Wohnzimmer stellen kann.

Ich baue rund um Allerheiligen einen recht opulenten Ahnenaltar auf und hab' schon im vergangenen Jahr mit einem Urgroßvater ziemlich gehadert ob ich sein Bild aufstelle, wo dann allerdings der Wunsch die Galerie "komplett" zu haben siegte. Dieser Altar steht allerdings immer nur ein paar Tage oder Wochen - aber die Photos dauerhaft auf den Kaminsims stellen?

Vom Emotionalen her denke ich ja, die Familie geht vor.

wem kann man wirklich guten Gewissens aufstellen?

der Großvater war im Krieg - ob als Täter oder Mitläufer, der andere ein Tyrann der das Leben in der Familie schwer gemacht hat, einer Alkoholiker der Frau und Kinder verprügelt hat, einer hat sich vielleicht immer über die jungen Mägde hergemacht und nicht zur Vaterschaft gestanden

also wen "ehrt" man und wen nicht?

das ist eine sehr schwere und sehr persönliche Entscheidung.

Ich für mich seh es so: mein Vater, Großvater und mein Schwiegervater waren Kinder bzw Erwachsene dieser Zeit und lebten diese Gedankengänge so wie sie damals vorgelebt und vorgebetet wurden. Wieviel Chancen hatten sie wirklich zu kritischen Gedanken oder gar Taten?

also bei uns hängen die Fotos - aber nicht in Uniform ;-)

Bei meinem Urgroßvater weiß ich bis heute nicht, welche aktive Rolle er während des 3. Reichs gespielt hat, aber meine Großmutter hüllt sich seit 75 Jahren in Schweigen. Sein Name wird zwar in bestimmten Zusammenhängen immer mal wieder genannt, aber nicht einmal andere Zeitgenossen konnten mir Konkreteres sagen. Er war nie an der Front und auf Bildern habe ich ihn in zivil, was es in der Tat leichter macht.

Seinen Sohn (eben meinen an anderer Stelle schon mal erwähnten in Westungarn vermissten Großonkel) kenne ich neben den Erzählungen von einem einzigen Photo aus der Rot-Kreuz-Kartei- und da ist er in Uniform. Allerdings war er bei der Machtergreifung gerade mal 8 und bei seinem vermutlichen Tod gerade mal 19 Jahre alt. Da war nie auch nur der Hauch einer Chance eine eigene Familie zu gründen. Wenn wir sein Bild nicht mehr aufstellen, wird es in einigen Jahren überhaupt niemand mehr tun. Das ist mit ein Grund, warum ich mir das Suchlisten-Bild im Moment als Photo aufarbeiten lasse.

Aber ich ringe überraschend zäh mit mir um dieses Bild.

ganz ehrlich - dein Großonkel hatte wohl keine andere Wahl. er ist genau in der Zeit aufgewachsen - genau das was ich "ein Kind dieser Zeit" bezeichne, er hatte nichts anderes zu hören bekommen, nichts anderes zu sehen, er hatte nur die Helden dieser Zeit. er konnte gar nicht aus. und zum Schluss noch an der Ostfront "verheizt"
Du weißt ja nichts - vielleicht wollte er gar nicht, vielleicht hatte er eine Freundin, vielleicht hattte er andere Träume. oder vielleicht träumte er das, was alle damals träumten …
das macht ihn nicht zu einem schlechten Menschen.

- schön, dass du noch an ihm denkst. Habt ihr einen Grabstein? das hilft auch oft beim geistigen Aufarbeiten

Grabstein? Schön wär's. Lt. Rot-Kreuz-Gutachten ist er höchstwahrscheinlich während der Plattenseeoffensive im März '45 gefallen. Wir wissen weder, wo er beerdigt bzw. verscharrt wurde, noch sein Sterbedatum. Daß er im Grunde aufgrund von Erziehung und Prägung keine Wahl hatte, ist mir auf tragische Weise durchaus bewusst.

Seine Mutter musste das nicht mehr miterleben - sie kam im April '45 bei einem Transporterunfall ums Leben.

So gesehen hat dieser Teil der Familie durchaus "bezahlt". Wenn es auch - zumindest im Falle meines Großonkels - eigentlich die Falschen getroffen zu haben scheint.

Ich habe noch zwei solcher Spezialfälle: eine Tante von mir starb am Tag ihrer Geburt - von ihr existiert meines Wissens nach kein Bild - und ein weiterer Großonkel von mir starb im indischen Ozean an Bord eines beschossenen U-Bootes. Auch er starb ohne eigene Familie.

warum lässt du dann seinen Namen nicht auf euren Familiengrabstein schreiben (ist halt eine Kostenfrage) - aber ich habe das Gefühl, du brauchst einen versöhnlichen (?) Abschluss. Eine kleine Zeremonie am Friedhof, ein Gedenken - Ein Name auf einen Grabstein, der nicht vergessen wird.

Es gibt bei uns keinen "Familiengrabstein", aber ich weiß, was Du meinst. Ich nehm ihn jetzt erstmal "auf's Kaminsims" und dann mit in die Allerheiligenfeiern. (Wir begehen das Fest in Anlehnung an den "Dia de los Muertos" mit einer Ofrenda und der Einladung an die Lebenden und die Verstorbenen uns zu besuchen - ich hoffe der Corona-Wahnsinn ist bis dahin im Griff.) Das müsste ihn eigentlich integrieren. Hoffe ich.

de los Muertos - jawohl das hat Stil.
sowas gfallt mir

ich hoffe du findest Frieden mit deinen Ahnen

Sagen wir es mal so: ich habe letztes Jahr beim Schweden eine kleine Minikommode gekauft um die Utensilien für die Ofrenda unterzubringen (und einige voluminösere Teile bekomme ich da noch nicht unter). Dieses Jahr habe ich vor die Bilder unserer Vorfahren in passendere Formate zu bringen und vielleicht auch dauerhaft zu rahmen. Bisher habe ich die Bilder in einer Mappe und nur provisorisch gerahmt um sie für Allerheiligen aufzustellen. Aber auch ein Tisch für 6 Lebende kann für 30 Geister - äh - Photos schon mal zu klein werden.

Die Gräber unserer Familie - soweit sie nicht ohnehin schon wieder eingeebnet wurden - sind über halb Europa bis in die USA verstreut (die Westlichsten in Tennessee, die Östlichsten kurz vor Posen, die Südlichsten im Burgenland und das Nördlichste in Niedersachsen). Da ist es einfacher die Toten zu uns einzuladen als hinzufahren und zu riskieren, daß einer beleidigt ist, weil wir nicht gekommen sind.

Vielleicht kann es beim Umgang mit den bekannten und unbekannten Untaten unserer Vorfahren auch helfen, zu beachten, dass in jedem Menschen gute und schlechte Seiten zu finden sind, auch bei jedem von uns. Auch wir handeln in vielen Situationen nicht so, dass das Wohl der anderen gewahrt bleibt, auch wir sind in der Gefahr bei Entscheidungen Verblendungen nicht zu bemerken, auch wir sind durch Vorurteile beschränkt. Wenn wir hoffentlich zu keinen Mördern werden, sollen wir dankbar sein und kein Heiliger war von diesen Gefahren ausgenommen (und so mancher zuvor ein Verbrecher ...).

Robert.

Danke für Eure Rückmeldungen.

Also Ahnenforschung mache ich, weil ich wissen möchte, was meine Vorfahren gemacht und wie sie gelebt haben. Ich bin von vornherein nicht davon ausgegangen, dass ich nur auf "brave" Verwandte stosse. Dazu möchte ich Robert recht geben, da ja in jedem von uns nicht nur gute Gedanken und Taten stecken (Und was wir heute als gut erachten, kann morgen schon als schlecht erkannt werden). Auch kann man sich, wenn man auch noch soviel liest, nicht 100%ig in frühere Zeiten hineindenken um alle Handlungen unserer Ahnen zu verstehen. Das WWII-Thema ist etwas Besonderes, weil man uns noch über viele Generationen ein schlechtes Gewissen macht, während auf der ganzen Welt weiter Länder überfallen, zerbombt und ausgeplündert werden. Ich denke, dass man aus diesem Grund bei einem Ahnen, der im Weltkrieg z.B.: bei Gefangenentransporten oder der SS war, viel größere Bedenken hat, als bei einem Ahnen, der Raubritter war. Auf den wären vielleicht sogar ein bisschen stolz.
Etwas in Erfahrung Gebrachtes und der Nachwelt Verheimlichtes käme für mich einer Geschichtsfälschung gleich. Auch würde ich mir nicht anmaßen, über das Leben und Taten zu urteilen, ich beschränke mich ausschließlich auf die Fakten. Den Gedanken, dass uns div. Taten unserer Ahnen peinlich sind, könnten wir ja weiterspinnen und uns überlegen, ob es nicht auch peinlich ist, Viehhirten, Armenpfleglinge ... in unserem Stammbaum zu haben und diese Informationen weg zu lassen. Wir hätten dann einen makellosen Stammbaum nur mit "Reich und Schön".

LG Walter